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Der
Neunkräutersegen besticht zunächst durch die Komplexität
seines formalen und gedanklichen Aufbaus. Ob es sich um eine Komposition
von zwei, drei oder noch mehr Einzelteilen handelt, ist ebenso umstritten
wie die genaue Reihenfolge der einzelnen Verszeilen. Als wahrscheinlich
gilt, dass bei der Abschrift, und um eine solche muss es handeln, im Textblock
der Zeilen 30 bis 44 einige Zeilen vertauscht und vielleicht sogar ausgelassen
wurden. Die vorliegende Umgestaltung (linke Zeilennummern entsprechen
dem Original im Manuskript) bietet daher auch nur eine Möglichkeit
der Neuordnung.
Damit
aber nicht genug, auch was die Anzahl und die Identifikation der beschriebenen
Pflanzen betrifft, ist eine präzise Aussage nicht möglich. Nur
bei den beiden aus dem Latein abgeleiteten Namen fille und finule
sind die zugehörigen Pflanzen (Kerbel
und Fenchel)
wirklich eindeutig, waren aber in England nicht heimisch. mucgwyrt
(Beifuss,
Artemisia vulgaris L.) wegbrade (Wegerich,
Plantago major L.) lassen sich namentlich erschliessen. Die antike
Pflanzenlehre zeichnet jedoch Beifuss als "Mutter der Kräuter"
aus und nicht den Wegerich, wie hier geschehen. Daher kann auch hier eine
Verwechslung nicht ausgeschlossen werden. Viel schwieriger gestaltet sich
die Bestimmung aller restlichen Pflanzen. Die hier vorgeschlagenen Entsprechungen
sind daher keinesfalls als absolut anzusehen.
Schwierigkeiten anderer Art bieten die vermehrt auftretenden mythologischen
Anspielungen. Der hängende Gott (Z.39) und Wodans Glanzzweige (Z.32)
verweisen auf nordische
Mythologie. Im Runengedicht
Odins aus der Havamal
singt Odin (=Wodan) über sein Selbstopfer und wie er neun Nächte
am Weltbaum hing. Bei den Glanzzweigen mag es sich um neun Runenstäbe
handeln, die als zusätzliche Abwehr dienen. Daneben lassen sich für
die sprechenden Kräuter, ihr Versprechen bei der Erschaffung und
die vom Himmel herabfallenden Kräuter Parallelen aus der altindisch-brahmanischen
Rgveda
belegen, womit auch die Einbeziehung einer weitaus älteren Mythe
möglich scheint.
Für das allgemeine mittelalterliche Verständnis von Krankheit
und körperlichen Gebrechen ist die Unterscheidung zweier Giftarten
typisch. Dabei handelt es sich einerseits um Gift, das durch imaginäre
Schlangen oder Würmer den Menschen und das Vieh heimsucht, andererseits
um Gift, das unsichtbar vom Wind übertragen wird (fliegendes Gift,
Ansteckung). War das Leiden in irgendeiner Form erklärbar, etwa nach
Art des Giftes zuzuordnen, dann half meistens ein spezieller Spruch oder
ein darauf zugeschnittenes Rezept. Beim Neunkräutersegen wird diese
Zuordnung jedoch unterlassen, hier scheint es sich also um eine allgemeines
Heilverfahren zu handeln, das auf weiter nicht diagnostizierbare Leiden
angewendet wurde. Die einzigartige Kombination aus Beschwörung, Spruch
und schliesslich auch noch pharmazeutischer Anweisung muss daher als äusserst
starkes Heilmittel für weiter nicht bestimmbare Leiden angesehen
werden.
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